Alice Gericke

»Elementarteilchen«

31. Mai bis 18. August 2023

Mo-Do von 8:00 – 17:00 Uhr
Fr von 8:00 – 15:00 Uhr

Elementarteilchen

Der Anspruch an die Kunst, etwas Neues zu zeigen, ist heutzutage wahrscheinlich die einzige allgemeingültige Anforderung angesichts der Pluralität dessen, was Kunst sein kann. Weil der Begriff „neu“ bereits einen umfassenden Anspruch erhebt, wird er in den Kunstakademien gerne durch die Formulierung „etwas Eigenes“ ersetzt. Das Eigene zu finden oder besser zu erfinden, geschieht in einer Auseinandersetzung mit dem Fremden. Denn die Aneignung von Welt bedeutet Aneignung seiner selbst und nur das Selbst kann etwas Eigenes erschaffen.

Bei Alice Gericke erfolgt das Finden und Erfinden des Eigenen über eine Suche nach einem festen Fundament in der Auseinandersetzung mit der Linie. Sie ist im Schaffen der Bremer Künstlerin das dominante Gestaltungsmittel. Die Spur der Linie auf dem Papier umreißt die Kontur, grenzt Flächen voneinander ab, verdichtet sich, schafft Räume. Alice Gericke dekliniert die Linie als Ausdrucksmittel durch ganz unterschiedliche Medien und reflektiert dabei wahrnehmungspsychologische Grundlagen wie beispielsweise die Figur-Grund-Beziehung. In einer Serie von Scherenschnitten übersetzt sie die Knicke von zerknülltem und geglättetem Papier in Topografien aus kurzen, festen Linien. Das Zerknüllen des Papiers als Geste des Verwerfens, des Scheiterns und Beendens wird zum Ausgangspunkt für etwas Neues. Während in der Serie der „Wastepaper“ („Abfallpapier“) sich die schwarze Linie als Positiv vom Grund abhebt, entsteht in den großformatigen Papierschnitten wie in der Arbeit „Schraffur“ (2022) die Linie durch das Wegschneiden von Papier quasi negativ. Linie und Trägermaterial sind hier eins. Die räumliche Wirkung entsteht nicht nur durch die tatsächliche Räumlichkeit der Arbeit, sondern auch durch die Verdichtung der Linien zu einem engen Geflecht dynamischer Linien gegenüber geschlossenen Papierflächen. Ist in der „Wastepaper“-Serie das zerknüllte Papier als Motiv wiederkennbar, lotet Alice Gericke in „Schraffur“ die Grenze zum gegenstandslosen freien Ornament aus.

Die weiße Linie auf schwarzem Grund begegnet uns in der Arbeit „Linie, Bleistift, Papier“ (2022) wieder, die in der Städtischen Galerie Bremen im Rahmen des 45. Bremer Förderpreises für Bildende Kunst im Ausstellungsraum entstanden ist. Auch hier wird die Linie als Papierschnitt erzeugt, allerdings wird die mit Graphit gestaltete Ausstellungswand selbst zum Bestandteil des Werkes. Die Linie selbst studiert Alice Gericke in dieser Arbeit in ihren unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten – als suchende Linie, die mal die Form erfasst und mal verliert, als Konturlinie, die den Umriss definiert oder als Binnenlinie, die die innere Struktur aufzeigt.

Aneignung findet bei Alice Gericke nicht nur in Form von Aneignung von Wissen und Fähigkeiten statt. Durch das Erforschen und gleichzeitige Erschaffen von Ausdrucksmöglichkeiten macht sich die Künstlerin zugleich ihre Welt und sich selbst zu eigen.